Leseprobe

Irka Geschichten von beiden Seiten der Regenbogenbrücke

Blindenvollschrift, 2 Bände, Spiralbindung   58,00 €

Blindenkurzschrift, 1 Band, Spiralbindung   48,00 €

Hörbuch, Daisy-Format, Laufzeit ca. 210 Min, 11,90 €

Taschenbuch, ca. 150 Seiten 13,00 €

 

Leseprobe:

Das Allerverrückteste aber hörte ich in dieser Zeit von Frauchen. Sie wollte nach Hamburg ins „Freudenhaus“! Den Chef und mich würde sie dorthin mitnehmen. In meinem ganzen Leben hatte ich so etwas Irrwitziges noch nie gehört, ein, weibliches Wesen, das in ein solches Etablissement will? Soweit ich das kannte, war so ein Haus doch eine Einrichtung, die von Männern besucht wurde. Nein, eure Vermutungen sind falsch. Dahin musste ich Herrchen nie begleiten. Aber Frauchen, die wollte ihren Gemahl dort reinbringen. Zum Donnerwetter, warum konnte die ihn nicht zu Hause in unserer Wohnung verführen? Bis jetzt hatte das immer geklappt, wenn sie nur wollte. Ich weiß es, denn ich lebe hautnah mit meinen Menschen zusammen.

Frauchen verschwor sich also mit Frau Beining, packte einen Koffer für uns, und los ging die Reise in ein ganz besonderes Abenteuer. Kaum waren wir in Hamburg auf dem Hauptbahnhof angekommen, stellte unsere private Stadtführerin, denn als solche zeigte unsere Bekannte  sich nun, meinen Menschen „Herrn Hummel“ vor. Das war eine geschnitzte Männergestalt, die ein Tragholz auf den Schultern hatte, an dem an jeder Seite ein ebenso hölzerner Eimer hing. Dieses Original sei zu früheren Zeiten, als es Rohrleitungen in Hamburg noch nicht gab, Wasserträger gewesen. Mit seinen Bütten hätte er das kühlende Nass gegen ganz geringes Entgelt zu den Menschen gebracht. Wenn man ihn ärgern wollte, so habe man damals „Hummel, Hummel“ gerufen. Seine regelmäßige Antwort war dann „Mors, Mors“, was so viel heißen sollte wie: „Ach, leck mich doch da, wo ich am schönsten bin.“

Für Herrchen gab es viel zu ertasten. „Der trägt eine Jacke mit ganz toll geschnitzten Knöpfen, und das Gesicht fühlt sich so an, als würde er lächeln.“ Nur wenige Meter weiter stand die nächste Plastik. Als der Chef auch die vierte Hummelstatue im wahrsten Sinne des Wortes begriffen hatte, fragte er Frau Beining: „Ist es richtig, dass jede Figur ihren eigenen Gesichtsausdruck hat? Der erste hat gelächelt, und dieser zum Beispiel fühlt sich an, als wäre er ärgerlich.“ „Ja, Herr Nolte, sie haben Recht,“ erklärte sie ihm, „das müssen Sie sich mal vorstellen, ich lebe jetzt seit 1947 hier und diese Unterschiede nehme ich erst heute durch Ihre Frage ganz bewusst wahr, obwohl ich die Figuren doch fast täglich vor der Nase habe.“

Ganz viel könnte ich noch darüber berichten, was wir in diesen Tagen erlebten. Mit S- und U-Bahn, mit Bussen und Schiffen ging es durch Hamburg. Das mit den großen Booten war für uns ganz neu. Da stieg man an irgendeiner Anlegestelle ein und irgendwo am gegenüberliegenden Elbufer an einer anderen Station aus, genau wie beim Bus fahren auch. Ach, was zeigte Frau Beining uns alles! Die Binnenalster, die Landungsbrücken, Museumsschiffe, die dort verankert waren, den „Michel“, das ist die St. Michaeliskirche, Hamburgs größtes Gotteshaus, ein Stück historische Altstadt mit den Krameramtsstuben, und dann fuhren wir raus zum Museumshafen nach Övelgönne. Da sind eine ganze Reihe alter Schiffe vertäut, die geradezu Denkmalsstatus haben, unter anderem auch einer der ältesten noch fahrtüchtigen Dampfeisbrecher der Welt, die „Stettin“. Das Schiff wird heute für die Veranstaltung von Ausflugsfahrten genutzt. Kaum hatte ich überhaupt Zeit, all den verschiedensten Düften nachzuspüren, die auf meine Nase eindrangen. Natürlich gab es an Stellen, von denen man eine besonders schöne Aussicht hatte, auch Pausen für Mensch und Tier, und so verging die Zeit im Fluge. Irgendwann am Nachmittag meinte Frau Beining dann: „Jetzt müssen wir aber langsam wieder in die Stadt, nach St Pauli, auf die Reeperbahn. Ich hab schon mal geschaut, wo das ‚Freudenhaus’ ist. Wir fahren jetzt dahin.“ Was denn nun? Die Frau auch? Die wird doch im Januar des kommenden Jahres 80, und dann lässt sie sich auf solche Eskapaden ein? Da muss meine Hundewelt doch total aus den Fugen geraten! Frau Beining muss mir angesehen haben, was ich dachte, denn sie meinte: „Irka, da darfst du auch mit rein.“

Ja, und dann standen wir vor der Tür des „verrufenen Hauses“. Da hing wirklich ein Schild Freudenhaus“. Drinnen wurden wir ganz freundlich begrüßt. Niemand regte sich darüber auf, dass der Boss drei Begleiterinnen dabei hatte. Wir wurden an einen eigens für uns reservierten Tisch gebeten, und dann legte man meinen Menschen große Mappen vor. „Aha,“ dachte ich mir, „jetzt kommen die Bilderbücher zur Auswahl für die Damen und den Herrn.“ Frauchen begann zu lesen: „Dicke Nudeln,“ – die Mädels vom Service waren aber doch ganz schlank, „Vorfreudenschmaus, sündiges Fleisch und dann noch ein süßes Nachspiel.“ Mann, wie da der Martin die Ohren spitzte! „Also, es gibt“, und dann erzählte seine Gattin, was Küche und Weinkeller des Freudenhauses zu bieten hatten. In diesem Augenblick begriff auch ich: Das war ja gar kein --, sondern ein in einschlägigen Kreisen hoch geschätztes Speiserestaurant.

Ich weiß noch, dass der Boss sich Hamburger Pannfisch bestellt hat. Als besondere Garnitur lag ein Flusskrebs auf seinem Teller. Frauchen fragte die Serviererin: „Und wie bekomme ich den aus der Schale?“ Die Dame schaute meinen Boss an und erwiderte: „Dem drehen wir dann einfach den Schwanz ab, und dann geht das schon.“ Herrchen, der in diesem Falle nicht wusste, ob vom Flusskrebs oder ihm die Rede gewesen war, meinte nach einer Weile: „Evelin, hier werde ich nie wieder essen.“ „Warum denn nicht, Martin, schmeckt es dir etwa nicht?“ „Doch,“ bekam sie zur Antwort, „aber hier werde ich an Leib und Leben bedroht! Da kann ich nie wieder hingehen.“ Frauchen hatte nichts Besseres zu tun, als der Serviererin die Geschichte zu erzählen. An der Stelle, an der dem Krebs(?) der Schwanz abgedreht werden sollte, erhob sich ringsum schallendes Gelächter.

Eins verrate ich euch über diesen Tag noch: Spät abends im Hotel, meine beiden lagen grade im Bett, hörte ich, wie Frauchen fragte: „Martin, als was möchtest du denn heute neben mir schlafen, als mein Geliebter oder mein Mann?“ „Natürlich als dein Mann“, antwortete er ganz aufgeregt. Jetzt wird’s spannend, dachte ich. Da drehte Frauchen ihm den Rücken zu und sagte nur noch: „Na dann Gute Nacht Alter, schlaf gut!“